Kervin Saint Pere



Emil Nolde und das Nachleben des Kolonialismus

Installation


2019 wurde im Archiv des MARKK eine Kiste der koloniale «Medizinisch-demographischen Deutsch-Neuguinea-Expedition» gefunden, an der Emil Nolde teilnahm. Auf diesen neuen, noch nicht archivierten Bildern ist Emil Nolde mit einem Kolonialhelm zu sehen, wie es die Kolonialbeamten taten. Aus meiner Sicht wirft er so Licht und Schatten der Vergangenheit in unsere Zeit.

Aber haben wir uns jemals gefragt, was es damals bedeutete, einen kolonialen Helm zu tragen? Nolde lebte schließlich zu einer Zeit, in der Rassentheorien eine rechtliche und intellektuelle Grundlage für die Probleme und die institutionelle Gewalt bildeten, in der viele Migranten lebten. Nolde ist auf der Fotografie mit einem Kolonialhelm abgebildet, einem charakteristischen Element der Kolonialherren in den ehemaligen Kolonien, einem Symbol der Macht, einem Symbol für rassische Unterschiede und ethnische Superiorität.

Doch diese Beobachtung ist nicht neu, denn ein Zeitgenosse Noldes, der in Nigeria lebte und auch die britischen Besatzung miterlebte, ein nigerianischer Künstler namens Thomas Ona Odulate bediente sich den Bildhauertechniken der Region und portraitierte auch Europäer*innen in Holzskulpturen.

Installation im Rahmen des Fluctoplasma-Festivals im "Zwischenraum" des MARKK-Museums











Der
weiße Hintergrund

Lecture Performance
AIL, Kassenhalle Postsparkasse

Die Lecture Performance stellt einen Dialog zwischen ausgewählten Bildern, ihren Archiven und ihrem "Nachleben" sowie deren extraktivistischen Mechanismen her. Dabei wird der Frage nachgegangen, welche Arten von Darstellungen historisch der Ausbeutung des Anderen dienten und für den Extraktivismus des Kautschuk verwendet wurden.

Die Lecture Performance wurde zum ersten Mal beim Public Programm im Rahmen von Angewandte Festival gezeigt, ausstellung: ”stretching across
time and space- Zur Kolonialität von Objekten und Projekten”.





Fotografien: Laura Ettel




Die Stadt Hamburg und ihr Nachleben des Kolonialismus

Kulturdenkmal-Tafeln, Bauzäune, Virtual Reality Tafeln
Juli 2022, Rauminstallation

In der Stadt Hamburg kann man nicht nur Spuren der ehemaligen kolonialen Metropole entdecken, sondern auch Spuren von Denkmustern, die noch immer existieren, die überlebt haben, die nicht aufgehört haben zu existieren - die »Kolonialität der Macht« (Aníbal Quijano). Ein Teil dieser Strukturen findet sich nicht nur in den Darstellungen des letzten Jahrhunderts, die heute kulturelles Erbe sind, sondern auch in den Formen des selektiven Erinnerns und des bewussten Vergessens der Geschichte, von denen die Kulturdenkmal-Tafeln erzählen.

Die »blauen Tafeln« versuchen zunächst einen ersten historischen Eindruck der Architektur Hamburger Kulturdenkmale zu vermitteln.  Diese Tafeln entscheiden jedoch je nach Gebäude, welche Art von Erinnerung erläutert werden darf, so wird z.B. bei Gebäuden mit einer komplizierten kolonialen Vergangenheit wie dem Chile-, Afrika- und Asiahaus, dieser Teil der Vergangenheit überhaupt nicht erwähnt. Stattdessen wird aus der diplomatischen Formalität des selektiven Erinnerns eine Erinnerung ohne Erinnerung geschaffen.

Die Installation »Die Stadt Hamburg und ihr Nachleben des Kolonialismus« schreibt diese vergessene Erinnerung durch die Aneignung der institutionellen Formalität neu und macht dasVergessene sowohl gegenwärtig als auch sichtbar, indem sie die Spuren im Zusammenhang mit anderen Bildern aufzeigt und die konstruierten Darstellungen reflektiert, als visuelle Form der »Handlung« (Aby Warburg).

Die Installation besteht aus zwei Konstruktionen von Bauzäunen, die als zwei miteinander verbundene Tafeln fungieren und aus den Narrativen der Repräsentation aus Institutionen (linke Seite) und privaten Räumen (rechte Seite) eine visuelle Konstellation bilden, die als »das Nachleben des Kolonialismus« bezeichnen werden kann.













Intervention & Stadtspaziergan

Die Intervention - Stadtspaziergang »Die Stadt Hamburg und ihr Nachleben des Kolonialismus« schreibt diese vergessene Erinnerung durch die Aneignung der institutionellen Formalität neu und macht das Vergessene sowohl gegenwärtig als auch sichtbar, indem sie die Spuren im Zusammenhang mit anderen Bildern aufzeigt und die konstruierten Darstellungen als visuell form der Handlung reflektiert.
Bei der Intervention geht es darum, die verschiedenen »blaue Tafeln«mit neuen Beschreibungen zu bedecken, die wiederum aus einer widerständigen und dekolonialen Perspektive geschrieben sind und versuchen, diese eurozentrische System der Geschichtserzählung zu entlarven.






(english version below)

Wir sind alle Kanaken

Experimental Documentary 2021 - 20:20 Min 

In seinem Essay-Film Wir sind alle Kanakenveranschaulicht Kervin Saint Pere die vielschichtigen Bedeutungsebenen des Begriffes Kanake, die ihm durch den europäischen Kolonialismus gewaltvoll zugeschrieben worden sind. Die Verwendung des Wortes ist eng mit rassistischen Praktiken europäischer Kolonialisierung im Globalen Süden verknüpft und dient bis heute zur Legitimierung von Gewalt. Diese kolonialen Praktiken nimmt sich Saint Pere vor, denn durch Bilder, nichtwissenschaftliche Mythen und „Theorien“ wird der als Kanake bezeichnete Mensch dehumanisiert, degradiert und als der Andere und Fremde markiert.

Aus den historischen Postkarten und Fotografien der Kolonien, welche im Film auftauchen, werden genau die Menschen, die zum Objekt gemacht werden, ausgeschnitten und überlagern geisterhaft filmisches Archiv-Material europäischer Expeditionsreisen. Die erschaffenen Schablonen verdichten den filmischen Blick, lupenhaft, wie ein zweites Kameraauge auf den kolonialen eigenen Blick. Was die Betrachter*innen im Film nicht mehr sehen, sind Bilder von Menschen, die auf „Szenen der Gewalt“ reduziert werden, sondern jene, die diese Kategorisierungen und Abwertungen vorgenommen haben, nämlich: die Europäer*innen. Saint Pere schafft durch diese Akzentsetzung eine Umkehrung; die Europäer*innen, die in heroisch anmutenden Posen als Beobachtende auftauchen, werden zum kritisch hinterfragten Objekt. Die Wiederholung des Satzes „Wie in den Denkmustern der europäischen Kolonien“ im Voice-Over verdeutlicht präzise, dass die gegenwärtigen Bedeutungen des Begriffs „Kanake“ als Gastarbeitende, Geflüchtete und sogenannte Nicht-Integrierte immer noch mit kolonialen und rassistischen Bildern verknüpft sind. Das Wort dient in der Vergangenheit und Gegenwart dazu, durch Kategorisierungen Gewalt zu legitimieren, ungerechte Ordnung zu gewährleisten und Herrschaftsstrukturen und Diskriminierungen aufrecht zu erhalten.(Cana Bilir-Meier)





ENG:

Wir sind alle Kanaken
Experimental Documentary 2021 - 20:20 Min

In his essay film, “Wir sind alle Kanaken“, Kervin Saint Pere demonstrates the complex layers of meaning associated with the term "Kanake" which have been violently imposed through European colonialism. The usage of the term is closely tied to racist practices of European colonization in the Global South and continues to be used to legitimize violence today. Saint Pere tackles these colonial practices, for it is through images, non-scientific myths and "theories" that the person designated as Kanake is dehumanized, degraded and marked as the Other and the Stranger.

From the historical postcards and photographs of the colonies that appear in the film, the very people who are being objectified are cut out and ghostly superimposed on filmic archival footage of European expeditions. The created stencils condense the cinematic gaze, magnifying, like a second camera eye on the colonial own gaze. What viewers no longer see in the film are images of people reduced to "scenes of violence," but those who have made these categorizations and devaluations, namely: the Europeans. Saint Pere creates a reversal through this emphasis; the Europeans, who appear as observers in heroic-looking poses, become the critically scrutinized object. The repetition of the sentence "As in the thought patterns of the European colonies" in the voice-over precisely illustrates that the current meanings of the term "Kanake" as guest workers, refugees and so-called non-integrated people are still linked to colonial and racist images. In the past and present, the word serves to legitimize violence through categorizations, to ensure unjust order, and to maintain structures of domination and discrimination.(Cana Bilir-Meier)


(english version below)

Among
Savages


Experimental Documentary - 14:40 Min. Juli 2020



Unter Wilden versucht, den westlichen Blick auf den Wilden
und dessen Folgen zu dekonstruieren. Abwechselndes, sich überlagerndes Archivmaterial und selbst produziertes Bildmaterial, das im Dia-Archiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg gefilmt wurde, sowie Postkarten aus der Zeit, werden von einer Erzählung über einen Amerikaner namens Carlos Poppe begleitet, der aus Profitgier Schrumpfköpfe produzierte.

Die Aneignung und Kommerzialisierung der rituellen Praxis bis hin zu absichtlichen Tötungen, der buchstäblichen Kopfjagd, um die gestiegene wirtschaftliche Nachfrage nach Köpfen von Touristen und Sammlern zu befriedigen, wirft die Frage auf, wer eigentlich der Wilde ist. Gleichzeitig wird der Betrachter auf zynische Art und Weise mit dokumentarischen und schriftlichen Erzählungen aus den 1940er Jahren konfrontiert, die die Überlegenheit der Arbeit weißer männlicher Ethnographen präsentieren und betonen.

Die Arbeit eröffnet einen Raum für komplexe Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den Erzählungen des Anderen und der Kategorisierung des Anderen als wild, unzivilisiert oder exotisch, von denen letztere bis heute eine beliebte Kategorie in den Archiven von Institutionen und Museen bleibt.




ENG:

Among Savages
Experimental Documentary - 14:40 min. July 2020

Among Savages attempts to deconstruct the Western gaze on “the savage“ and its consequences. Alternating, overlapping archival footage and self-produced imagery filmed in the slide archive of the University of Hamburg's Department of Art History, as well as postcards from the period, are accompanied by a narrative about an American named Carlos Poppe who produced shrunken heads for profit.

The appropriation and commercialisation of the ritual practice to the point of deliberate killing, the literal hunting of heads to satisfy the increased economic demand for heads by tourists and collectors, raises the question of who is actually the savage. At the same time, the viewer is cynically confronted with documentary and written narratives from the 1940s that present and emphasise the superiority of the work of white male ethnographers.

The work opens up a space for complex contexts and connections between narratives of the Other and the categorisation of the Other as savage, uncivilised or exotic, the latter of which remains a popular category in institutional and museum archives to this day.

©saintperekervin2022